Besucherrekord und Gänsehautmomente im Literaturhaus

Herr Knittel, blicken wir auf die Anfänge des Literaturhauses zurück. Als das frühere Auktionshaus im Jahr 2020 erst einmal saniert werden musste – wie haben Sie den ersten Besuch hier erlebt?
Anton Knittel: Ich war erstaunt über die Räume und konnte mir anfangs schwer vorstellen, wie das funktionieren sollte. Im Erdgeschoss war noch eine Zwischenwand drin, im heutigen Sekretariat ein Lastenaufzug. Dann kam die Corona-Pandemie. Es war lange nicht klar, ob wir wie geplant öffnen können. Im März 2020 war maximal ein Bauarbeiter zugelassen. Zwei Wochen vor der Eröffnung sah es noch ziemlich nach Chaos aus. Aber: Es hat alles wunderbar geklappt und war ein erhebendes Gefühl, hier ins umgebaute Trappenseeschlösschen einzuziehen.
Wie schwierig war der Anfang in der Corona-Zeit?
Knittel: Wir hatten im Deutschhof die Möglichkeit, Open-Air-Lesungen anzubieten. Noch vor der Eröffnung haben wir den Freundeskreis des Literaturhauses mit 96 Mitgliedern gegründet. Mit seiner Hilfe haben wir unter Pandemiebedingungen an einem Wochenende 22 Führungen für je zehn Personen angeboten. Die erste Lesung hier im Haus konnten wir erst im Sommer 2021 veranstalten.
Wie haben sich die Gästezahlen entwickelt?
Knittel: Es ist kontinuierlich nach oben gegangen. Im Jahr 2024 gab es einen Rekordbesuch. Wir hatten 90 öffentliche Veranstaltungen, die meisten hier im Hause, zusätzlich 36 Projekte an Schulen und Hochschulen. Es kamen 3600 Gäste zu unseren Veranstaltungen, zudem 900 Personen, die das Haus und die Ausstellung ansehen wollten.
90 Veranstaltungen im Dreier-Team - Leiter, Sekretärin, Volontärin - wie schafft man das?
Knittel: Es ist kein Job von neun bis 17 Uhr, es finden Veranstaltungen auch abends und am Wochenende statt. Da muss man Herzblut mitbringen, dann funktioniert das gut. Und wir haben einen regen Freundeskreis, der am Einlass hilft, beim Bücherverkauf und das Programm mit unterstützt.
Wenn Menschen hier näher mit Literatur in Berührung kommen – was erleben Sie da für Reaktionen?
Knittel: Man sieht es manchmal an leuchtenden Augen, wie die Menschen mitdenken, mitfiebern bei den Lesungen und Diskussionen. Wir hatten schon Schulklassen hier, die fast nicht mehr gehen wollten. Der Zuspruch durch die Bevölkerung ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man sieht, dass Menschen sich berühren lassen durch Literatur.
Das Literaturhaus hat sich etabliert. Was sind Highlights oder die erfolgreichsten Angebote?
Knittel: Die Reihe „Debüt am See“ mit Autorinnen und Autoren, die ihre Erstlinge vorstellen. Wir hatten bekannte Autoren wie Jan Philipp Reemtsma hier vor ausverkauftem Haus oder den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudis, ebenso Büchner-Preisträger wie Arnold Stadler oder Ursula Krechel. Rainer Moritz, Autor und Kritiker, ist öfter zu Gast, was immer gut besucht ist. Was auch sehr gut läuft ist unser Drittmittelprojekt „Wortstatt Heilbronn im Dialog“. Da bieten wir interkulturelle Schreibwerkstätten an Schulen und an der Hochschule. Gut laufen auch Kooperationen mit regionalen Kulturanbietern. Es ist ein bunter Mix.


„Literaturveranstaltungen sind soziale Praxis, brauchen Austausch und unerwartete Begegnungen“ haben Sie zum Start im Juli 2020 gesagt. Welche Begegnung war denn unerwartet und besonders?
Knittel: Ein Besuch von geflüchteten ukrainischen Kindern mit ihren Müttern. Eine ukrainische Schriftstellerin hat ihnen hier im Haus Märchen vorgelesen. Das waren Gänsehautmomente. Die Kinder waren ganz beglückt und fasziniert, haben die Märchen gehört, die sie aus ihrer Heimat kannten. Es war auch ein Stück Halt und Ankommen in der neuen Gesellschaft.
Interessieren sich junge Leute in der digitalisierten Welt und verkürzten Sprache noch groß für Literatur?
Knittel: Es ist sicher einer Herausforderung für die kommenden Jahre, Neugier und Interesse zu wecken, auf neue Zielgruppen zuzugehen. Wir haben in unserer Reihe „Debüt am See“ immer wieder junge Autorinnen und Autoren, die Literaturbegeisterte anziehen. Wir haben die Schreibwerkstätten an Schulen, die mit dafür sorgen, dass Literatur spannend bleibt. Und wenn Sie sich auf Buchmessen umschauen, sehen Sie, dass junge Themen boomen.
Das Buch ist noch attraktiv?
Knittel: Der Buchmarkt ist schwieriger geworden, selbst große Erfolgsautoren haben nicht mehr Auflagezahlen wie früher. Aber: Es sind viele Bücher auf dem Markt, auch von jungen Autoren. Theoretisch könnten wir jede Woche viele Veranstaltungen anbieten mit tollen Texten. Das Buch lebt, breiter als früher, auch in Heilbronn.
Welche neuen Formate entstehen im Literaturhaus? Worauf kann man sich freuen?
Knittel: Wir bieten ab Oktober ein neues Format „Schöne Aussichten“ im zehnten Stock des Parkhotels mit Autorinnen und Autoren aus der Schweiz. An drei Samstagen gibt es wieder Schreibwerkstätten in Kooperation mit Heilbronner Hochschulen. Die Debüt-Reihe geht ebenso weiter wie die Europa-Reihe mit der Kulturstiftung der Kreissparkasse. Im Oktober liest Anna Maschik aus ihrem Roman „Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten“. Am 1. Februar ist Anna Prizkau mit „Frauen im Sanatorium“ hier. Ich war begeistert von dem Buch und konnte fast nicht mehr aufhören.
Zur Person: Anton Knittel, 63, studierte Germanistik und katholische Theologie, promovierte in Literaturwissenschaft. Der gebürtige Messkircher war Assistent im Deutschen Seminar, arbeitete im Geistes- und Naturwissenschaftlichen Forschungszentrum in Tübingen. Später wechselte er ins Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn, arbeitete in der Pressestelle der Stadt und übernahm 2019 Aufbau und Leitung des Literaturhauses. Knittel ist verheiratet und Vater dreier Kinder.